„Die Perle der Perlen“

Joseph von Eichendorff: Mondnacht

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Joseph von Eichendorff:
Mondnacht
 
„Die Perle der Perlen“
 
Von Heinz Rölleke

 
Es war Thomas Mann, der im Bereich der Lyrik einem romantischen Gedicht Eichendorffs die Krone verlieh. 1954 sagte er in einer von ihm moderierten Musiksendung im Süddeutschen Rundfunk dazu, es sei „die Perle der Perlen; vielleicht würde ich es nicht so lieben wenn es Schumann nicht so unglaublich genial vertont hätte.“ Damit war Eichendorffs „Mondnacht“ angesprochen, ein Gedicht, das 1837 im Druck erschienen und von Robert Schumann 1840 vertont worden war.
 



Mondnacht
 
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt.
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt'.
 
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis' die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
 
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
                       
            Eichendorffs Lyrik und seine „Taugenichts“-Novelle sind neben Grimms Märchen die Werke der romantischen Epoche, die bis heute die populärsten geblieben sind. Das mag auch an der betont einfachen Sprache liegen, die dem ersten Verständnis entgegenkommt. Eichendorff baut oft unauffällig Elemente ein, die in der Hochsprache nich t üblich sind: „hätt'“ statt 'hätte'. „müßt'“ statt 'müßte', „leis'“ stattd 'leise'„nach Haus“ statt 'nach Hause'; auch die Satzkonstruktion in der Mittelstrophe entspricht nicht ganz den Regeln. Die schlichten dreihebigen Jamben und der biedere Kreuzreim der Verse (wobei einleitend der zu erwartende Reim wiederum die scheinbar bewußt einfältige Sprachform erkennen läßt: „Himmel“ assoniert mit „schimmer“). Mit all dem rückt er seine Sprache dem Volksliedton näher, und tatsächlich wurden und werden manche seiner Gedichte in Anthologien als Volkslieder geführt („Am Brunnen vor dem Tore“, „In einem kühlen Grunde“, „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“), und er gehört  neben Goethe und Heine zu den meistvertonten Lyrikern Deutschlands.
            Die einfachen Wendungen und Bildungen seiner lyrischen Sprache geben bei näherer Betrachtung immer wieder  überraschende Rätsel und Fragen auf, so zum Beispiel im Schlußvers des tiefsinnigen Gedichts „Die beiden Gesellen“. Nachdem die beiden frischen Jünglinge ihre Lebensziele verfehlt haben  - der eine wird früh zum seßhaften Spießbürger, der andere geht in den Wirbeln der verführerischen Welt zu Grunde -,  bleibt dem Sprecher des Gedichts, dem vor Schmerz über diese offenbar alternativlosen Schicksale die Tränen im Auge quellen, nur das vielleicht ratlose Resümee „Ach Gott, führ mich liebreich zu Dir.“ Adorno hat in diesem Schlußvers „niederbrechende Verzweiflung“ erkennen wollen, andere Interpreten sehen  in der Hinwendung zu Gott Erlösung aus dem Dilemma der Lebensläufe.
            Ähnlich Diskutables findet sich in vielen der beim ersten Kennenlernen einfach-eindeutig scheinenden Gedichte. So wohl auch in „Mondnacht“, das mit je einer Konjunktivform beginnt („als hätt'“) und endet („als flöge“). Es scheint, als ob die Interpretationen, die die beiden Konjunktivformen als Irrealis auffassen, wohl vorschnell und unnachdenklich festgelegt sind. Daß die Seele des hier sprechenden Lyrischen Ich diesen verließ (er also tot sei) ist natürlich unmöglich, also ein Irrealis: Das kann nicht sein. Anders steht es um den Eingangsvers, bei dem es sich doch eher um einen Potentialis handelt: Es muß nicht, könnt aber so gewesen sein. Mythische Vorstellungen kann man nicht so einfach falsifizieren, zumal wenn sie als Vergleich herangezogen werden. Es ist die uralte Vorstellung vom Zeugungskuß, den der Himmel im Frühling als Bräutigam seiner Braut, der Erde, gibt, die sich daraufhin bräutlich verschleiert und künftige Fruchtbarkeit ahnen läßt. Diese wird durch die wunderbaren Bilder der zweiten Strophe angedeutet. Die Bilder von einem sanften nächtlichen Windhauch, von den leise und harmonisch wogenden Feldern und den majestätisch rauschenden Wipfeln der Wälder werden durch das Auge des Lyrischen Ich wahrgenommen, denn wer sollte sonst „so“ sagen? Mit diesem Wort wird die eigene Befindlichkeit in den stillen Landen thematisiert: Die Seele träumt sich in ihr längst verlorenes Paradies der Kindheit zurück, in der sie sich einmal daheim fühlte, oder sie ist auf dem Weg zur ersehnten ewigen Heimat im Jenseits. Daß viele Rezipienten des tröstlichen Gedichts an die letztere Bedeutung glauben, machen Inschriften auf manchen Grabsteinen deutlich. Das so gewaltige wie originelle Bild der geräuschlos durch die Luft gleitenden Seele könnte Eichendorff aus einem Gedicht des mit ihm befreundeten romantischen Dichters Achim von Arnim übernommen haben, dessen Titel („Von den letzten Erdenstunden“) auf die Stunde des Todes voraus deutet:
 
                        In dem abgezehrten Leibe
                        Wurden frey der Erde Flügel.                      
 
Zuvor hatte schon der Anakreontiker Ludwig Christoph Heinrich Hölty in seinem Gedicht „Das Landleben“ das seltene Bild in einem gleichen Kontext gebraucht:
 
                        Ruft einst der Tod mich weg von meinem Hügel,
                            Von meiner Flur, ich zittre nicht,
                        Er kommt als Freund, giebt meiner Seele Flügel,
                            Giebt ihr ein Kleid von Licht.
 
Robert Schumann schätzte das Gedicht hoch ein, wie er auch dem Dichter gegenüber äußerte; dieser seinerseits war von der musikalischen Umsetzung (der sich übrigens wenig später Johannes Brahms begeistert mit einer eigenen Komposition anschloß, was Schumann überaus erfreute). Dichtung und Musik stehen hier in einer vollkommen harmonischen Symbiose: Nicht nur für Thomas Mann die Perle in der so überreichen deutschen Liedkunst. 
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2023

Mit diesem wunderbaren Aufsatz verabschieden wir uns in tiefer Trauer von unserem Freund und
Kolumnisten Heinz Rölleke, der vor einem Monat gestorben ist, uns zuvor aber noch das Material
zu Joseph von Eichendorff zur Verfügung gestellt hat. Heinz Röllekes eloquente Beiträge haben die
Musenblätter während unserer zehnjährigen Zusammenarbeit bereichert, uns jedemal begeistert
und stets großes Echo bei unseren Lesern gefunden. Sie bleiben hier selbstverständlich erhalten.
 
Die beiden von den Musenblättern herausgegebenen Sammelbände mit Heinz Röllekes Aufsätzen
„Sprache und Sinn“ und „Die Magie von Wort und Zahl“ können nach wie vor bestellt werden: